Es ist gut 20 Jahre her, seit wir im Rahmen der Wieser Enzyklopädie des europäischen Ostens (WEEO) mit dem Lexikon der Sprachen begonnen haben.
„Mit der Hilfe von Barbara Maier, Feliks J. Bister, Wolfgang Geier und Günther Hödl gelang der erste große Schritt zur Realisierungder Enzyklopädie. Wir organisierten eine große wissenschaftlicheTagung auf der Burg Schlaining und gaben den Startschuss zur Enzyklopädie. Wir haben uns gemeinsam entschlossen, als erstes ein Lexikon der Sprachen des europäischen Ostens vorzulegen. DieArbeit daran, mit einer Vielzahl von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern wurde unter der Leitung des Slawisten Miloš Okuka (München/Sarajevo) durchgeführt und zeitigte kaum zweieinhalb Jahre später einen tausendseitigen Band, in dem 100 lebende und 16 ausgestorbene Sprachen im europäischen Osten umfassend – wissenschaftlich, semantisch, grammatikalisch, literarisch – nachgewiesen und beschrieben wurden. Die Erkenntnis, wie viele Sprachen im europäischen Osten tatsächlich gesprochen werden, hat uns alle überrascht und führte uns die Heterogenität des europäischen Ostens vor Augen. Diese Erkenntnis, die später mit der Herausgabe des Lexikons der Sprachen des europäischen Westens vervollständigt wurde, machte uns erstmals empirisch sichtbar und nachvollziehbar, wiebunt und reich Europa ist, werden doch, auf so engem Raum, in weniger als 50 Staaten gut 200 autochthone und 200 zugewanderte Sprachen gesprochen und gelebt.“
Aus: Lojze Wieser: Im dreißigsten Jahr. Wieser, Klagenfurt/Celovec 2017, S. 291-292.
In diesen Tagen gedenken wir – vereinzelt – den Tag der Muttersprachen. Mittlerweile wissen wir, dass es auch der Tag der Vatersprachen ist, seit die Zahl der gemischten und Pečwork-Familien rasant wächst.
Wir befinden uns mitten im Umbruch. (Wann nicht?). Die Menschen sind in Bewegung, Kriege, Krisen und Ausgrenzungen, Hass und Unverständnis sind alltägliche Begleiter. Angst um den kleinen Vorteil, den man sich aufgebaut hat, droht zu versanden. Gründe und Schuldige werden gesucht. Privilegien werden mit Zähnen und Klauen verteidigt, Staatsführer und Kanzler der wohlhabenderen Ländern glauben, dass durch Ausgrenzung, Schließung von Grenzen, durch den Zusammenschluss von Nettozahlern ihr priviligierter Reichtum unsere Katastrophen von uns fern halten kann und werden nicht müde, uns zu erzählen, dass durch unsere Hilfe in Not geratenen Menschen den hiesigen Menschen ihr Erspartes – und den reichen Ländern – das Staatsgold klauen wollen. Am liebsten wäre es ihnen, sie würden anderswohin gehen, wo „sie eine Arbeit finden“ und nicht dorthin wo – angeblich – „die Sozialhilfe am höchsten ist“, so die österreichische Integrationsministerin Raab via Twitter. Dieser Auspruch wird heutzutage von zahllosen Regierungen verbreitet. Die Menschen sollen bleiben, wo der Pfeffer wächst, ist der Grundton; die gegenseitige Hilfe, die Solidarität, die Fürsorge – verkommene Worte, ausrangiert, verpönt. Fremd.
Fremd, wie die Sprachen, die den Menschen ihr innerer Halt sind, die Heimat, die Kraft, die Literatur, die Lied, Freude und Tränen sind, die Verständnis und Liebe in sich tragen. Man nahm in den letzten 50 Jahren den Hergekommenen die Sprache. Gerufen wurden sie „Gastarbeiter“ – aus heutiger politischer Praxis ist der damit einhergehende Zynismus in seiner ganzen Verachtung mehr als schmerzhaft und zeigt die Überheblichkeit, die damit vor sich hergetragen wird und die die Keimzelle des Herrenmenschen weitertransportiert und wachsende Basis der zunehmenden Verrohung der Gesellschaft ist, wie sie Hanau zuletzt offenbarte.
Man hat in der Vergangengeit breit und großzügig darauf verzichtet, den Menschen die aktive Integration durch Zusammenfassung der Information in den Medien, oder durch Untertitelung in ihren Sprachen, zu erleichtern; man hat bewußt und geschäftstüchtig ihre Lage genutzt und ihnen durch überteuerte und desolate Wohnmöglichkeiten den Weg in entlegene Stadtbezirke gewiesen, die ihnen später als „Jugo-Zentren“, europäische „Chinatowns“, zum Vorwurf gemacht wurden.
Dann kamen über „uns“ die Flüchtlinge. Über Ursachen, warum diese Menschen ihre Länder verlassen mußten und müssen, wer ihnen Entwicklungshilfe und ihren Regierungen Waffen und Panzer verkaufte, und wer ihnen ihren zuhause erworbenen Wohlstand zerstört hat, wird in der Regel wohlweislich geschwiegen.
Aber, da bis in die höchsten politischen Kreise die Unterstellung Basis des Handelns ist (Erinnern wir uns – sie sollen dorthin gehen, wo „sie eine Arbeit finden“ und nicht dorthin „wo die Sozialhilfe am höchsten ist“) ist es nur auch logisch, dass die politische Ausgrenzung bei und mit der Sprache ihre Fortsetzung findet: dem Anschein nach kommt die Forderung des Erlernens der hiesigen Sprache wie eine warmherzige Fürsorge daher – sie „sollen sich ja integrieren“ können – drum müssen sie die hiesige Sprache – klar doch, vordringlich – erlernen und die eigene vergessen, nach Möglichkeit, auch untereinander nicht sprechen; nur so würden sie sich schneller bei uns eingliedern und uns ebenbürtig sein.
Vergessen, dass die Medien, Gewerkschaften, Parteien, Kirchen u.v.a.m über Jahrzehnte nichts oder bedauerlich wenig gemacht haben, dass die arbeitenden Gäste auch mitbekommen, worüber wir streiten, feilschen und reden, geschweige, dass wir sie eingeladen haben, mitzureden und, gar nicht zu reden davon, dass wir uns auch ein wenig von ihren Sprachen und Kulturen und Geschichten angeeignet hätten. Wir haben diese unsere Versäumnisse gleich auf den neu zu uns gekommenen Menschen „korrigiert“ – „Der, der nicht Deutsch spricht, soll zuhause bleiben“ und haben gleich einmal beschlossen – „Ohne Deutsch, keine Arbeit“ und kürzten sogleich auch – und vorsichtshalber – einmal die Mittel für die Sprachkurse. So, zur Strafe, um ungezogenen Kindern von vornherein zu zeigen, wer Herr im Haus ist!
Dabei haben wir uns noch garnicht vergewissert, was die neuesten Hirnforschungen und soziologischen Erfahrungen von positiven Möglichkeiten zu berichten wissen: Wenn Menschen ihre eigene Sprache gut beherrschen, dann lernen sie die Sprache der Nachbarn auch wesentlich schneller. Nimmt man ihnen ihre erste Sprache, verstummen sie. (In Kärnten gibt es den Begriff des „Potukel“, des „Windischen Potukels“, wenn es noch deutlicher gesagt werden sollte. Der Begriff wird vom slowenischen Wort „potuhniti se“, sich ducken, abgeleitet.)
Dabei sind eigentlich nur einige wenige und kostengünstige Maßnahmen erforderlich, um die Präsenz der Sprachen im öffentlichen Raum zu gewährleisten – im Fernsehen, im Radio, in den Zeitungen und den sozialen Medien Untertitelungen und Zusamnenfassung einführen; Sprachkurse in den Fabriken, Unternehmen, bei Kammern und Gewerkschaften während der Arbeitszeit durchführen…
Gerade auch unsere hundertjährigen Versäumnisse und positiven Erfahrungen der letzten Jahrzehnte lehren uns ein einfaches Gebot: Kannst du die Sprache des Nachbarn, kannst du mit ihm reden, dich in seiner und deiner Welt bewegen.
Die Sprache gibt die Möglichkeit, sich groß zu denken und frei zu handeln. „Es ist alles viel größer und schöner, als man sich das vorstellen kann (…) was da an Märchenhaftigkeit und zugleich Wahrhaftigkeit auf einen zukommen kann“ sagte Peter Handke vor Kurzem. Die Müttersprachen und die Vätersprachen lassen uns ICH sein und vieltönig der märchenhaften Welterzählung lauschen.
Literaturhinweis
Lexikon der Sprachen des Europäischen Ostens und Westens