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An einem Tag wie diesem

Es begann im Frühjahr vor 23 Jahren, an einem Tag wie diesem. Im Herbst 1997 erschienen die ersten Bände der Reihe Europa Erlesen zur Frankfurter Buchmesse. In meinem Buch Im dreißigsten Jahr habe ich dazu folgendes geschrieben:

Der Hinweis vom Diogenes-Verleger Rudolf C. Bettschart im Frühjahr 1997, als ich ihn in Zürich besuchte, gab den Ausschlag, an die Umsetzung der Idee in der nun als Europa erlesen vorliegenden Form zu gehen. Er meinte damals, als er sich meine Überlegungen anhörte und die Muster begutachtete – die unsere Druckerei als Maquetten vorlegte und mit denen ich auf einer zehntägigen Rundreise durch Österreich, Deutschland, die Schweiz und Slowenien Buchhändler, Journalistinnen und Brancheninsider befragte – dass wir für billig gemachte Bücher zu arm seien; ich solle lieber einen edel gestalteten Band machen, so im Wert eines schönes Blumenstraußes, den man seiner Frau oder Geliebten bringe. So standen mein Freund Schmid und Bettschart mit ihren Ratschlägen an der Wiege der Reihe Europa erlesen. Sie redeten mir gut zu und halfen, den Verlag wieder aus der schwierigen Situation zu manövrieren.


Aus: Lojze Wieser: Im dreißigsten Jahr. Wieser, Klagenfurt/Celovec 2017, S. 87.

Aktuell halten wir bei 230 Bänden und machen weiter – mithilfe kundiger Herausgeberinnen und Herausgeber.

Der erzählerische Hauptstrang führte uns unter anderem nach Albanien, in die Bačka, ins Collio/Goriška Brda und die Donau entlang bis zu ihrem Delta; wir lauschten dem Echo des Jahrhunderts in Georgien, in Istrien, auf dem Karst und in der Lausitz; wir bummelten durch Moskau, Niš, Odessa, Plovdiv, Riga und Salzburg; wir kehrten in der Steiermark/Štajerska ein, durchstreiften die Terra Bosna und die Vojvodina; zogen entlang der Wolga bis Zentralasien, schauten auch in Zürich vorbei. Wir ließen den Hauptfluss speißende Nebenstränge und Reihen entspringen, kleinen Flüssen und Bächlein gleich: besuchten Literaturschauplätze, schritten den Limes ab, zogen mit den Donnerstagsdemonstranten auf die Wiener Wandertage; schauten, wie der Wind in Georgien weht, machten uns als Ausländer nach Belgrad auf, erzählten uns politische Witze aus Osteuropa und lasen Krims Märchen, gingen mit Joseph Roth auf Reisen und besuchten Slataper in seinen Karstdolinen; fuhren im Takt durch die Schweiz und lasen zwischen Fels und Nebel europäische Lyrik – in gut dreißig Sprachen. Wir brachen mit dem Frauendienst und den Fabliaux ins gar nicht dunkle Mittelalter auf, lasen erneut die fein gleitenden Verse von Eschenbachs Parzival (wie sie einzig Franz V. Spechtler zu übertragen wusste) und fragten den Ackermann von Böhmen, Tkadleček, Walther von der Vogelweide und Willehalm, ob sie eine Antwort auf Parzivals Frage „Mensch, wer bist du?“ hätten. 

Wir begannen die blinden Flecken zu erkunden und wussten, wir müssen Europa leben – und kochten mit Rezepten aus der ungarischen Arme-Leute-Küche, befragten Santonino nach einer ordentlichen mittelalterlichen Kost, kehrten bei der slowenischen Köchin mitte des 19. Jahrhunderts ein, die uns auf die Connaisseure der dalmatinischen Küche verwies, und fanden in den Geschmacksverwandtschaften das Kochbuch für zukünftige Millionäre …

Wir blickten über den europäischen Tellerrand hinaus, in den Orient und nach China, schauten auch nach New York, reisten nach Hong Kong und besuchten eine Reihe von Kulturhauptstädten.* Zuletzt blieben wir – erschüttert – in Reka/Rijeka/Fiume in Gedanken versunken, da gerade hier Gerhard M. Dienes, nachdem er uns den Rijeka-Band** zum Druck reichte, sich aufmachte, seine letzte, lange Reise anzutreten. 

Mir bleibt nur, ihm nachzurufen: Reise gut, mein Freund, wir werden ein wenig noch weiterziehen, bevor wir dir folgen. Bis dahin lesen wir weiter, versprochen! 

Dein Verleger

Lojze

*) Amsterdam, Athen, Bergen, Brüssel, Cork, Dublin, Graz, Helsinki, Hermannstadt, Kopenhagen, Krakau, Linz, Liverpool, Paris, Plovdiv, Porto, Riga, Rijeka, Stockholm, Tallinn, Vilnius, Weimar.

**) Gerhard M. Dienes, Ervin Dubrović, Marijana Erstić & Gero Fischer (Hrsg.): Europa Erlesen Rijeka. Wieser, Klagenfurt/Celovec 2020.

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