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4. (Über)Leben in Zeiten wie diesen. „Die Glocken fliegen nach Rom…“ 9.April 2020

Beim Lesen von Josef Winklers Gespräch mit Uschi Loigge in der Kleinen Zeitung vor wenigen Tagen, erzählt Winkler auch von den Glocken, die zu Ostern nach Rom fliegen würden. Das führte mich in meine frühe Kindheit, wo Glocken und Ratschen eine Rolle spielten.


Der Dorfpfarrer Brumnik – die Göttin hab ihn selig -, seines Zeichens ein Bulldozer,  der mit der missionarischen Wucht und Aggression jeden und alles niedermachte, warb vor der Osterwoche um Ministranten und durchbohrte jeden mit seinen hervorquellenden, stechenden Augen, baute sich vor mir auf und zeigte mit dem Finger auf mich: Ti! Du! Eingeschüchtert, von unten nach oben schauend, den Kopf zwischen die Schulter, die Igelfrisur aus „Haaren wie Schweinsborsten“ (Stric/Onkel Hugo) stellte sich wie ein Abwehrschild auf und trieb mir die Tränen in die Augen. Ich werde kein Ministrant! Nur einmal breitere sich dieser Wunsch in mir aus, als Möglichkeit von zuhause wegzukommen und wurde ob der damit verbundenen disziplinierenden Rituale dem stärkeren Willen nach dem „Selber-Sein“ rasch wieder verwofen; wurde nicht geopfert, im Opferlamm ist der Willen nach Unterwerfung verborgen.


Ich wurde kein Ministrant, ich liebte es, mit meinem Volksschulfreund M. am Sonntag außerhalb der Kirche – bei den wenigenmalen des sonntäglichen Messebesuches – im Gras, außerhalb, in Hörweite der Messzeremonie, im Inneren des Presbysteriums, zu liegen und mir die Sonne auf den Bauch scheinen zu lassen, streng bis gehässig von den – auch nicht die Messe besuchenden, scheinheilig frömmelnden Moralaposteln, die die Messe schwänzten und wichtigtuerisch bei den Familiengräbern vorbeischauten – angefaucht oder „Das tut man doch nicht!“ mir sagen zu lassen. 

In den Tagen, auf Ostern zugehend, erzählte uns Pfarrer Brumnik, dass die Glocken nun zu Ostern „nach Rom fliegen“ und sich der dumpfe Klang des Glockentriangels – der den in seiner Nähe sich Aufhaltenden das Gehör nahm und noch kilometerweit die Erde erschütterte und das zarte Grün der sprießenden Birken, Hainbuchen, Brombeer- und Himbeerblätter, der Ribiselsträuche und der gerade in die Fenstertröge gestellten Hängenelken erzittern lies, die freilaufenden Hühner erschreckte und dem Hahn, trotz angesträngtem Kikerikien, jegliche Autorität nahm – nun in ein Ratschen, wie bei alten Weibern, verwandeln werde, und – wie der sterbende Šumi-Onkel  ächzend, stöhnend – ihre Botschaften darboten. Als ich diese Erzählung von den „nach Rom fliegenden“ Glocken hörte,  schaute ich mit großen, neugierigen Augen. Den Pfarrer anstarrend raste die Phantasie, alles um mich herum vergessend, bis mich eine Kopfnuß, seine beliebteste Form der Aufmerksamkeiterheischung, brennend-schmerzlich in die Gegenwart zurück brachte und jäh das mit den Glocken Mitfliegen unterbrach. 

Nach der Religionsstunde machte ich mich auf, den Kirchturm zu beobachten, zu schauen, ob die da hoch oben mit einem Verschlag halb verschlossenen Fenster denn durchbrochen wären, geöffnet worden seien, um den Flug der großen und der beiden kleinen Glocken nicht zu behindern. Was ich nach einiger Zeit vernahm, war einzig das Knarren der Tram und der Balken, der Schindel und der Seile, die die Glocken festzurrten. Es hörte sich an, als hätte das Gebälk langsam, aber stetig das Dasein satt und sich zur Flucht aufmachen würde oder, um in sich zusamnenzufallen, übereinander zu werfen und für immer zu einer Ruine zu werden. 


Zuhause angekommen, Umwege über Felder nehmend, die ersten Wiesenblüten streichend, fragte die Mama sorgenvoll, was denn geschehen wäre, sie habe sich schon Gedanken gemacht und meinte dann, als ich ihr meine Enttäuschung und Verwunderungen über die ‚fliehgenden Glocken, die ratschen“ erzählte, dass sich wohl auch Glocken ausruhen müssen – von ihrem vielen Künden. Es beruhigte mich ein wenig, aber mich, den den Achtjährigen, lies es im Zweifel.

Im dreißigsten Jahr

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