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6. (Über)Leben in Zeiten wie diesen. 28. April 2020

Wir leben in einer Zeit, die mit der Bewältigung der aktuellen Pandemie uns nicht vergessen lassen darf, dass die geistige noch viel tiefer sitzt und immer wieder in Wellen über uns kommt, mit Mechanismen des Vergessens und Verdrängens, die auch schon von der Menschheit Erreichtes sehenden Auges mitreißen, gewollt oder nicht.

Ich fühle mich zweigeteilt, gebremst und kontrolliert, diszipliniert und äußerlich ruhig, finde aber innerlich nicht die richtige Ruhe. Ich arbeite viel, doch weiß ich nicht, wohin es führt, versuche der Kulturpolitik zu folgen und die handelnden Personen in Land und Bund zu überzeugen und auf die Gefahren hinzuweisen, in denen alle Kultursparten zunehmend versinken. Es erschöpft, die vielen Ankündigungen und die Reden von raschen Maßnahmen und dass „niemand zurückgelassen werden soll“ bedrängen die tagtägliche Selbstmotivation. Hinzu kommt, dass die Banken nicht gerade vor Umsetzungswillen sprühen und dass Worte der Politik mit den Taten der Banker nicht unbedingt korrelieren. Oder umgekehrt.

So schreibe ich in diesen Tagen, denke, telefoniere, koche, redimensioniere die Kräuterschnecke; am wenigsten noch gelingt das Lesen; zu vieles rauscht und lenkt ab …

Eine gute Ablenkung war die Arbeit an einem großen Interview für die Wochenendbeilage der slowenischen Wochenzeitung Delo, das vor einer Woche erschien und großes Echo hervorrief. Quer durchs Land, vom ehemaligen Ministerpräsidenten bis zum einfachen Lagerarbeiter, kamen zustimmende Anmerkungen, insbesondere zu den klaren Darlegungen zu Peter Handke durch meine Zurückweisung der unqualifizierten Anschwärzungen.

Was auffällt: Ein Leben, in dem die Zukunft so generell unklar, wo das Reisen und die freie Bewegung so reglementiert ist – und das nach meist nachvollziehbaren Kriterien –, ist wie ein Achter im Fahrrad: man kommt zwar irgendwie voran, aber wie bei einer permanenten Schlaglochtour. Was wäre es erst, wenn die Maßnahmen autoritär, reaktionär und diktatorisch wären, wie im Faschismus?

Und: es fällt auf und offenbart sich, wie seicht und oberflächlich der Lebenstiefgang und das Gehabe verschiedenster Akteure ist. Es desillusioniert. Vor allem, wenn es um die wirklichen Fragen der Zukunft geht. Die Blendung ist zwar angezählt, umso deutlicher sieht man, wie die hohlen Sätze daherplätschern …

Der Herbst wirft seine Schatten voraus. Die Arbeiten am Herbstprogramm sind bei Drava und bei Wieser voll im Gange. Ist das verzweifelter Mut, der uns treibt? „Ist die Kuh durch die Öffnung der Buchhandlungen wirklich vom Eis“, wie sich Tim Jung von Hoffman & Campe fragt? Und werden die Frühjahrsbücher zu ihrer Leserschaft finden, noch bevor die Herbsttitel das Licht der Welt erblicken, oder werden sie nur gemeinsam ein erneutes Aufbäumen wagen müssen, in der Hoffnung, nicht wieder allein gelassen zu werden, nicht wieder auf die Nase zu fallen? Wenn die Ankündigung des Kärntner Landeshauptmanns Peter Kaiser, die Jahresförderung sofort auszahlen zu wollen, als Schwalbe des Frühjahrs verstanden werden kann, die vom Süden fliegend auch in Wien gesehen, gehört und verstanden wird, könnte es vielleicht gelingen.

Ich habe soeben – als Selbstbeschwörung? – für den Herbstkatalog im Antescriptum geschrieben: „Es lebe das Buch!“ Ich habe mich entschieden und vertraue der spanischen Schriftstellerin Irene Vallejo, die sagt: „Bücher sind unsere Verbündeten.“

So soll es sein, so wird es (hoffentlich) sein – auch dank Erika, Matei, Josef, Jasna, Thomas, Dietmar, David, Selina, Dunja …, die aus den erzählenden Sätzen und Versen der Autorinnen und Autoren, der Übersetzerinnen und Übersetzer, schöne, haptische und aufmunternde, nachdenkliche, befreiende Bücher machen, auf die wir uns stützen.

In Erinnerung an Raimund Fellinger, der am 25. April verstarb. Uns verband eine jahrzehntelange Freundschaft. Reise gut, mein Freund!

„Zu schweigen erstarre ich auch stets, wenn man mir Vorwürfe macht, anscheinend bin ich prädestiniert, solche auf mich zu ziehen“, schreibt Raimund Fellinger im März 2011 in einem Mail.


Im Magazin der Süddeutschen stellte er fest: „Selbstzweifel sind immer gut. Man nutzt doch Literatur, um sich als Leser in Frage zu stellen. Wer im Umgang mit der Literatur keine Ironie gelernt hat, dem ist im Leben nicht mehr zu helfen.“ (SZ, 22.2.2016)

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5.(Über)Leben in Zeiten wie diesen. 13. April 2020

Der Ostermontag – Zeit, um über die Zukunft nachzudenken. Es ist die Literatur, die unsere Ängste und Unsicherheiten eindämmt. Es ist die Literatur, die dir das Gefühl für die Zeit wieder gibt. Sie verwandelt Stunden in Minuten und Minuten in Tage. Die dir das Leben in eine Erzählung wandelt. Die dich klüger macht, fluider, charismatischer. Die dich an die Zukunft erinnert. Die dich solidarisiert, sensibilisiert, kristallisiert und sie erleichtert dir die Sprünge ins Unbekannte. Sie ermöglicht dir die Überwindung von Widersprüchen und vom Paradoxen. Sie entflammt das Feuer in dir und revolutioniert dich. Die Literatur kommt Großteils – außer im ebook – zwischen Buchdeckeln daher. Die Literatur macht offen, sie weckt auf und sie macht frei. Wenn du ließt, hast du das Gefühl, mit dir ließt die ganze Welt. Literatur ist Solitär und Solidär. Einsam um Gemeinsam. „Bücher sind unsere Verbündeten“, sagt die spanische Schriftstellerin Irena Vallejo. Sie seien unsere Verbündeten zum Erhalt dessen, was uns am Wertvollsten ist. In Zeiten  der Unruhe und Zeiten der Ängste kann Lesen das Instrumentarium zur Erneuerung der Zukunft werden, denn sie seien die Hüter des Wissens. „Späteren Generationen haben sie das Wissen, die Entwicklung und die Visionen vergangener Zivilisationen erhalten“. Und, sie sind empfindlich.


Vielfach ist heute wieder zu lesen, nach der Krise wird es so sein, wie es war, nur schlimmer. Die Einen setzen aufs Gewohnte und auf Tradition, die Anderen auf kluges Zerreden jeglicher Veränderungsmöglichkeit. Ob es die Auferstehung eines undeffinierbaren Brauchtums ist oder doch eher die Rückgewinnung des Einfachen, das kompliziert zu machen ist, wie wir an allen sich in der Krise auftretenden Fragen studieren können, an dieser Reibung wird man die Weichen stellen, um letztendlich die Zukunft zu erkennen. Daher macht es sehrwohl Sinn,  heute und hier, die Grundsatzfragen zu benennen und an der Verschiebung des Gewichts der Beurteilung und der gesellschaftlichen Prioritäten zu wirken. 


Brüchig geworden ist – und sichtbar – dass in Österreich verschiedene Menschen, nicht nur „Österreicherinnen und Österreicher“, leben und ihnen die  Würde nicht mehr weiterhin streitig gemacht werden kann. Gezeigt hat es sich, dass pandemische Entwicklungen nur beizukommen ist, wenn man die erforderlichen Maßnahmen in den wichtigsten Sprachen und auf Augenhöhe mit den hier lebenden Menschen kommuniziert. Dass es geht und wie es geht, haben das Gesundheits- und das Justizministerium unaufgeregt und rasch gezeigt, wollten sie sich und ihre eigenen Maßnahmen nicht zunichte machen und das unkontrollierte Wachstum verhindern. Sogar den Gewerkschaften gelang das Kunststück, für alle Arbeitenden einzutreten und die über Jahrzehnten liebgewordene Haltung , nach der die „Österreicher zuerst“ vor den anderen zu bedienen seien, hintan zu stellen.  


Das Prinzip der deutschen Sprache, mit dem die in Österreich lebenden Menschen nunmehr seit (zweieinhalb) Jahrzehnten in immer penetranterer Form gegeißelt wurden hat sich in Zeiten wie diesen als unwirksam erwiesen. Offensichtlich wurde nur das Versäumnis, dass den hergekommenen Menschen nicht schon in diesen Jahrzehnten, während der Arbeitszeit, die Kenntnisse der deutschen Sprache beigebracht wurde. Die eigene wurde ihnen verstümmelt, die hiesige nicht beigebracht. Herausgekommen sind Menschen, die an den Rand der Gesellschaft,  in ‚Chinatowns‘ abgeschoben und zum Verstummen im öffentlichen Raum gezwungen wurden, ohne aktiven und passiven Wahlrecht, ohne Würde und Achtung, zu Sündenböcken gestempelt, denen man spitzfindig und phantasievoll die Grundrechte massiv zu beschneiden Begann. Erst der in der Krise offensichtlich gewordene Pflegenotstand oder der Erntehelferschwund führten die, diesen Menschen, angetane Ungerechtigkeit breiteren Schichten vor Augen und machte auf die bedeutende Rolle der Verachteten  aufmerksam. 


Wie gewaltig dieser Meinungsumschwung und wie tief er gesellschaftlich geht, ist wohl am deutlichsten an der erfreulichen Tatsache abzulesen,  dass die auflagenstärkste Tageszeitung im Lande, die Kronenzeitung, ein Titelblatt in 21 Sprachen gestaltet. Einem Wunder gleich spiegelt sich darin der Umbruch wieder, war doch diese Zeitung Jahrzehnte der mediale Wegbereiter des sich verbreitenden Ausländerhasses und zeigt uns diese Tatsache nur noch eindringlicher, welchen Schaden man vom Land frühzeitig abgehalten hätte,  wenn man in den vergangenen Jahrzehnten,  spätestens seit der Briefbomben-Serie der Neunziger, in allen Print-Medien Zusammenfassungen der Artikel in den wichtigsten Sprachen der hergekommenen Menschen gedruckt und in den Sendern zumindest die Nachrichtensendungen in diesen Sprachen untertitel hätte. Aber hier wurde in unbelehrbarer Form fortgesetzt, was sich als Assimilationswerkzeug gegenüber den ‚autochtonen‘ Minderheiten scheinbar bewährt hat und man glaubte wohl, damit der Welt im Umbruch am Beginn des 21. Jahrhunderts ebenso gewachsen zu sein. Spätestens die ‚Ortstafellösung‘ vor zehn Jahren in Kärnten hätte zu einer Meinungsänderung führen können, denn daran hätten sensiblere Politiker schon ablesen können, dass die Menschen weiter sind, als die Politik. In der jüngeren Zeitgeschichte war das zuletzt die Atomstromabstimmung zu Zwentendorf und die Minderheitenfeststellung Mitte der Siebziger – und zeigt uns die Wichtigkeit der Einflußnahme auf die laufenden Prozesse durch Meinungsbildung, Sprache, Übersetzung im Allgemeinen. All dies stärkt das Immunsystem, wehrt Krankheiten ab, verzögert die Ansteckung und die Erkrankung.


Bücher und Literatur sind Lebensmittel, sind Arznei, sind Wellness  und Sommerfrische der Seele. Die Poesie ist die Melodie.

Vlado Kreslin (von mir ins Deutsche übertragen)

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4. (Über)Leben in Zeiten wie diesen. „Die Glocken fliegen nach Rom…“ 9.April 2020

Beim Lesen von Josef Winklers Gespräch mit Uschi Loigge in der Kleinen Zeitung vor wenigen Tagen, erzählt Winkler auch von den Glocken, die zu Ostern nach Rom fliegen würden. Das führte mich in meine frühe Kindheit, wo Glocken und Ratschen eine Rolle spielten.


Der Dorfpfarrer Brumnik – die Göttin hab ihn selig -, seines Zeichens ein Bulldozer,  der mit der missionarischen Wucht und Aggression jeden und alles niedermachte, warb vor der Osterwoche um Ministranten und durchbohrte jeden mit seinen hervorquellenden, stechenden Augen, baute sich vor mir auf und zeigte mit dem Finger auf mich: Ti! Du! Eingeschüchtert, von unten nach oben schauend, den Kopf zwischen die Schulter, die Igelfrisur aus „Haaren wie Schweinsborsten“ (Stric/Onkel Hugo) stellte sich wie ein Abwehrschild auf und trieb mir die Tränen in die Augen. Ich werde kein Ministrant! Nur einmal breitere sich dieser Wunsch in mir aus, als Möglichkeit von zuhause wegzukommen und wurde ob der damit verbundenen disziplinierenden Rituale dem stärkeren Willen nach dem „Selber-Sein“ rasch wieder verwofen; wurde nicht geopfert, im Opferlamm ist der Willen nach Unterwerfung verborgen.


Ich wurde kein Ministrant, ich liebte es, mit meinem Volksschulfreund M. am Sonntag außerhalb der Kirche – bei den wenigenmalen des sonntäglichen Messebesuches – im Gras, außerhalb, in Hörweite der Messzeremonie, im Inneren des Presbysteriums, zu liegen und mir die Sonne auf den Bauch scheinen zu lassen, streng bis gehässig von den – auch nicht die Messe besuchenden, scheinheilig frömmelnden Moralaposteln, die die Messe schwänzten und wichtigtuerisch bei den Familiengräbern vorbeischauten – angefaucht oder „Das tut man doch nicht!“ mir sagen zu lassen. 

In den Tagen, auf Ostern zugehend, erzählte uns Pfarrer Brumnik, dass die Glocken nun zu Ostern „nach Rom fliegen“ und sich der dumpfe Klang des Glockentriangels – der den in seiner Nähe sich Aufhaltenden das Gehör nahm und noch kilometerweit die Erde erschütterte und das zarte Grün der sprießenden Birken, Hainbuchen, Brombeer- und Himbeerblätter, der Ribiselsträuche und der gerade in die Fenstertröge gestellten Hängenelken erzittern lies, die freilaufenden Hühner erschreckte und dem Hahn, trotz angesträngtem Kikerikien, jegliche Autorität nahm – nun in ein Ratschen, wie bei alten Weibern, verwandeln werde, und – wie der sterbende Šumi-Onkel  ächzend, stöhnend – ihre Botschaften darboten. Als ich diese Erzählung von den „nach Rom fliegenden“ Glocken hörte,  schaute ich mit großen, neugierigen Augen. Den Pfarrer anstarrend raste die Phantasie, alles um mich herum vergessend, bis mich eine Kopfnuß, seine beliebteste Form der Aufmerksamkeiterheischung, brennend-schmerzlich in die Gegenwart zurück brachte und jäh das mit den Glocken Mitfliegen unterbrach. 

Nach der Religionsstunde machte ich mich auf, den Kirchturm zu beobachten, zu schauen, ob die da hoch oben mit einem Verschlag halb verschlossenen Fenster denn durchbrochen wären, geöffnet worden seien, um den Flug der großen und der beiden kleinen Glocken nicht zu behindern. Was ich nach einiger Zeit vernahm, war einzig das Knarren der Tram und der Balken, der Schindel und der Seile, die die Glocken festzurrten. Es hörte sich an, als hätte das Gebälk langsam, aber stetig das Dasein satt und sich zur Flucht aufmachen würde oder, um in sich zusamnenzufallen, übereinander zu werfen und für immer zu einer Ruine zu werden. 


Zuhause angekommen, Umwege über Felder nehmend, die ersten Wiesenblüten streichend, fragte die Mama sorgenvoll, was denn geschehen wäre, sie habe sich schon Gedanken gemacht und meinte dann, als ich ihr meine Enttäuschung und Verwunderungen über die ‚fliehgenden Glocken, die ratschen“ erzählte, dass sich wohl auch Glocken ausruhen müssen – von ihrem vielen Künden. Es beruhigte mich ein wenig, aber mich, den den Achtjährigen, lies es im Zweifel.

Im dreißigsten Jahr